Samstag, 1. März 2008

Morgens um 9 beim Neubert

Neubert. Der Name begleitet mich, seit ich über die Kante des Esstischs schauen kann. Schon vor mehr als 30 Jahren bin ich, während meine Eltern irgendeine piefige Sofagarnitur oder ein neues Esszimmer auswählten, in dem mir damals riesengross wirkenden Laden auf Entdeckungsreise gegangen und habe die Verkäuferinnen abwechselnd in den Herzinfarkt oder den Blutrausch getrieben. Manchmal beschleicht mich der Verdacht, der Geburtenknick in den 70ern könnte massgeblich von mir verschuldet sein.

Mit den Rabauken wachsen auch die Läden. Der Neubert ist auch 35 Jahre später ein Halbtagesprogramm. Heute früh um neun war es mal wieder so weit, castagir in der Porzellanabteilung. Zielsicher in seinem Geschmack, steht er vor der teuersten aller Vitrinen, wie könnte es auch anders sein und jongliert Teller, Tassen, Schälchen.

Dorothea Henkel, Porzellanfachverkäuferin mit 200 Jahren Berufserfahrung, setzt ihre Brille auf, die an einer Goldkette hängend vor ihrem Busen baumelt und taxiert castagir. Auf ihrer Stirn blinkt eine Laufschrift. *Aha. Alleinstehender Mann, bestimmt keine Ahnung, braucht vermutlich einen Teller, den er dann eine Woche lang benutzt.*

"Guten Tag, kann ich Ihnen behilflich sein ?" säuselt es in castagirs Ohr, während Dorothea ihm behutsam die 300 Euro teure Teekanne aus den Händen windet und wieder ins Regal stellt.

"Hallihallo. Yup, ich brauch' ein paar Tassen" antwortet castagir flapsig und fädelt mit den nun wieder freien Händen die ganz hinten stehende Suppenterrine an einem wunderschön dekorierten Gedeck Tellerchen und Gläsern vorbei aus dem Regal. "Ich glaub', das da gefällt mir." Dorothea wird nervös.

"Sie haben Geschmack!"
"Ich weiss."
"Ist es denn für jeden Tag oder mehr so für Feiern und Einladungen ?"
"Also, ich will kein Sonntagsgeschirr haben, sondern eins, dass ich benutzen kann."


"Ah. Nunja. Wir hätten da vorne ganz tolle Komplettservices im Angebot, " flötet es erneut von der Seite, während sie in eine beliebige Himmelsrichtung zeigt, wo 100 Meter Luftlinie weiter Berge an Blümchendekors gestapelt sind.

castagir schaut an sich herunter, ob er heute die Hose vergessen hat oder sonst irgendwie besonders schlampig aussieht.

Als Dorothea ebenso genauso behutsam wie vorhin die Terrine aus castagirs Händen zieht und abstellt, und sich umdreht um vor ihm her in die Abteilung mit dem Porzellan für den Polterabend zu gehen, zieht castagir flink die Teekanne erneut aus dem Regal und nimmt sie mit. Er hat Zeit, und will Spass haben.

Einen knapp viertelstündigen Fussmarsch später stehen die beiden in der Abteilung mit den Scherben.

"Sehen Sie, hier gibt es ein wunderschönes Service für zwölf Personen, alles dabei, fast genau so schön wie das, was Sie gerade angeschaut haben !"

Ihr Blick gefriert, als castagir die sauteure Teekanne daneben abstellt und mault: "Na, das passt aber gar nicht so toll zusammen. Haben Sie nicht was, das besser dazu passen könnte ? Das da hat einen hellblauen Rand, und Blümchen, auch wenn sie noch so zart und klein sind, das geht doch nicht. "

Dorothea blickt über die Stapel an Poltergeschirr suchend um sich.
"Ah ! Sie möchten ein reinweisses Service, kommen Sie !" verkündet sie triumphierend und versucht, die Teekanne an sich zu reissen, aber castagir ist schneller.

"Das is doch nicht weiss, vergleichen Sie doch mal!" mault castagir, und stellt die brilliantweisse Teekanne auf einen Stapel Teller, dem man seine windschiefen Bauteile direkt ansieht, weil die Abstände zwischen den Tellerrändern unterschiedlich sind. Vermutlich C-Qualität und von einem zugekifften Vietnamesen bei Vollmond zusammengemanscht.

"Äh naja, das ist natürlich nicht so eine hochwertige Glasur wie bei dem, das Sie im Auge haben, dafür ist es aber auch bei weitem günstiger. Aber ich hätte da noch ein Service, das Ihnen vielleicht eher ..."

castagir beugt sich vor und liest aufmerksam Dorotheas Namensschildchen.
"Also, Frau ... Henkel, wir können meinetwegen den halben Tag durch diesen Laden schleichen und irgendwas suchen, von dem Sie denken, dass ich es mir leisten kann. Wir könnten aber auch einfach dahin zurückgehen, wo wir herkommen und ich mache Ihnen dann eine Liste, was ich alles haben will. Was ist Ihnen denn lieber ?"

Und während castagir sich schon halb umdreht um den Rückmarsch in die Porzellanabteilung anzutreten, fügt er hinzu: "Und ja, ich weiss, dass diese Teekanne hier in meiner Hand 327 Euro kostet. Und ich weiss auch, dass die Frühstücksteller vermutlich mehr als zwei Euro das Stück kosten werden."

Dorothea ist wie ausgewechselt, ihre gesamte Berufserfahrung bricht sich schlagartig Bahn. "Achso, Sie möchten tatsächlich ein so hochwertiges Geschirr haben, Verzeihung, das hatte ich nicht erwartet."

castagir lächelt sie an und erklärt: "Frau Henkel, Sie haben mich dort vor der Vitrine aufgegabelt. Ich stand da allerdings nicht, weil ich mich verlaufen hatte. Geh'n wir ?"

Auf dem Rückmarsch gabelt Dorothea eine weitere Kollegin auf, der sich noch eine beturnschuhte Azubine anschliesst. Schliesslich marschieren sie in halber Kompaniestärke zurück.

"Also" erklärt castagir, "damit hier nicht noch mal Missverständnisse aufkommen, ich will genau dieses Service haben, ich will kein anderes, ich will auch kein billigeres, ich will dieses. Das Einzige was wir noch klären müssen, welches der vier verfügbaren Dekore mir am besten gefällt," und schaut auffordernd in die Runde.

Dorothea lässt ihre ganze Porzellanabteilungsleiterinnenkomptenz spielen. "Edith, Gina, räumt doch mal den Tisch da frei, dann stellen wir Ihnen, Herr castagir, die vier Varianten schnell zusammen. Möchten Sie sich vielleicht ein paar Minuten umsehen, das dauert nur ein paar Momente."

castagir möchte. Während Dorothea, Edit und Gina ein mühsam dekoriertes sturzhässliches Hutschenreuther abdecken um den tischtennisplattengrossen Esstisch frei zu machen, geht castagir in die Besteckabteilung, denn seinen nächsten Anschlag hat er dort geplant.

Er stellt sich mitten in die WMF-Abteilung, bemüht sich möglichst hilflos zu wirken und setzt sein schönstes Landeigesicht auf. Und es funktioniert erneut. Binnen 30 Sekunden steht ein weiteres Muttertier vor ihm und flötet ihn auf bekannte Weise an.

castagir erklärt ihr, dass er seit einem Jahr genau jenes Besteck dort sein Eigen nennt, und noch ein paar Teelöffel haben möchte.

Die Löffelfachverkäuferin ist clever. "Oh, da muss ich nachsehen, ob man das einzeln nachkaufen kann. Haben Sie noch etwas, das Sie sich in der Zwischenzeit ansehen möchten ?" fragt sie freundlich. castagir möchte und verabredet mit ihr einen Termin in der Porzellanabteilung in einer Viertelstunde, sie solle einfach nur nach Dorothea, Edit und Gina suchen, er sei dann nicht weit, und macht sich auf die Glasabteilung.

Eigentlich hatte er vor, dort ein wenig gehbehindert aufzutreten und ab und zu einen erratischen Schritt zur Seite zu machen. Aber er befand, er habe an sich schon Spass genug für einen Vormittag gehabt. Die gleiche Haltung, der gleiche Blick, das nächste Muttertier.

"Kann ich Ihnen helfen ?"
"Au ja bitte, ich brauch' ein paar Gläser."
"Was für welche hätten Sie denn gerne?"
"Naja, primär solche, wo man draus trinken kann, nee Spass, ich suche ein paar schöne Weingläser."
"Haben Sie an etwas bestimmtes gedacht ?"


*Haben Sie an etwas bestimmtes gedacht?* hält castagir hingegen für eine der dämlichsten Fragen, die ein Verkäufer einem Kunden stellen kann. Hätte castagir an etwas bestimmtes gedacht, dann hätte er sich nicht wie ein hingeschissenes Fragezeichen mitten in der Abteilung aufgebaut und suchend um sich geblickt.

"Nein, ich weiss noch nicht genau, was ich möchte, ausserdem muss es zu dem Service passen, dass ich mir ausgesucht habe."
"Aha, und welches Service haben Sie ausgewählt ?"
"Naja, das da hinten, das weisse da."
verkündet castagir und wedelt unbestimmt in die Richtung der Vitrinen. "Sie haben hier aber viele schöne Gläser, und bestimmt passen nicht alle dazu, da wird es schwer, sich zu entscheiden." meint er und schaut die Glasfachverkäuferin auffordernd an. Bei dieser macht es zehn Sekunden später *click*
"Ich könnte Ihnen ja einige Gläser in die Porzellanabteilung bringen, dann könnten wir sie neben ein Gedeck stellen ?"
"Au ja, das ist eine tolle Idee. Das da, die Serie da, und vielleicht auch noch diese hier. Da hinten, wo Dorothea, Edith und Gina sind, da sind Sie richtig, ich schau mich noch ein wenig um" meint castagir.

Zehn Minuten später schlägt castagir in der Porzellanabteilung auf, wo die Damen inzwischen ganze Arbeit geleistet haben.

"Wunderschön!" lobt er die anwesenden Damen, "das haben Sie ja fantastisch hinbekommen!" Stolzes Strahlen um ihn herum. Doris, die Besteckfachverkäuferin deutet auf die Löffelchen, die sie einzeln auf den Teeuntertellern abgelegt hat. castagir strahlt zurück und beginnt, den Tisch genau zu untersuchen.

Kaum hat er ein "Na, das da ist aber nicht so schön" fertig gemurmelt, verschwindet Dekor Nummer eins vom Tisch, während Dorothea geschäftig neben castagir her um den Tisch wandert. Bückt er sich, bückt sie sich ebenso.

Edith, Gina und die unbekannte Löffelverkäuferin sortieren das abgeräumte Zeug zurück in die Auslage, als Doris, die Glasfachverkäuferin, im Schlepptau eine weitere Azubine, angerannt kommt. Sie hätte besser einen zehnarmigen Oktopus als Azubine haben sollen, so viele Gläser balancieren die beiden. Gerade als sie eine Glasserie kulinarisch korrekt vor Dekor zwei aufbauen wollen, zieht Edith es vom Tisch, die Gläser stehen alleine da. Doris und Edith schauen sich ernst an, während castagir lächelnd bemerkt "Das Dekor da ist schon ausgeschieden, war wohl ein Missverständnis", und die aufkeimende Spannung aus der Veranstaltung nimmt.

Begleitet von mittlerweile sechs Verkäuferinnen trifft castagir schliesslich seine Wahl. "Das da isses" verkündet er. "Die Gläser da hätte ich gern dazu, und natürlich die Löffelchen" fügt er hinzu, woraufhin Doris und die unbekannte Löffelfachverkäuferin freudestrahlend die restliche halbe Tonne Glas wieder einsammeln. Applaus liegt in der Luft als Dorothea verkündet, castagir habe eine exzellente Wahl getroffen.

Gefolgt vom vollständigen Tross an bepackten Fachverkäuferinnen und Azubinen marschiert castagir in Richtung der Porzellanabteilungshaupttheke. Dort warten seit rund einer halben Stunde mittlerweile knapp 10 weitere Kunden und fragen sich vermutlich, ob der Laden überhaupt schon auf hat. Aber sie haben sich zu früh gefreut, denn die ganze Truppe beginnt nun, das Porzellan der Wahl epileptikersicher zu verpacken, während Dorothea für castagir gern noch den halben Katalog des Herstellers kopiert, damit er auch sämtliche Zubehörteile kennt, die man leider nicht in der Ausstellung habe.

Auf dem Weg zur Kasse beginnt sich die Versammlung aufzulösen, nur noch zwei Damen im Schlepptau gelangt castagir an seinen knapp 2 Meter langen Kassenzettel.

Am Auto angekommen stellt castagir erneut fest, dass dieses bei weitem zu klein ist für eine Person.
Daheim angekommen stellt er fest dass es eine Scheissidee ist, im zweiten Stock zu wohnen.
Als er zum dritten mal mit einem Berg von Einwickelpapier zur Papiertonne geht stellt er fest, dass ein Kubikmeter Inhalt gar nicht so viel ist, wie er immer gedacht hatte.

Bis Mitte nächster Woche ist er nicht erreichbar. Denn auf jedem der Teile klebt ein Etikett. Eines, das sich wunderbar abziehen liesse, wäre es nicht an jeder Seite zweimal eingeschnitten, so dass jedes Etikett quasi aus neun Einzelteilen besteht.
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a life less ordinary ?

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