Brave new world

Ich kann den Finger nicht drauf legen, aber ich finde, irgendetwas läuft hierzulande furchtbar schief.
  • Einer Kassierin wurde nach 31 Dienstjahren gekündigt, weil sie Pfandbelege für 1,30 Euro für sich eingelöst hatte. Das Urteil wurde - rund zwei Jahre später - vom Bundesarbeitsgerichtkassiert.
  • Ein Computerfachman lädt seinen Elektroroller im Büro auf und wird wegen Stromkosten von 1,8 cent nach 19 Dienstjahren gekündigt. Das Urteil wurde vom Landesarbeitsgericht kassiert.
Eine Firma ist sicher kein Selbstbedienungladen, und es muss Grenzen dafür geben, was Mitarbeiter auf Kosten der Firma tun dürfen, sonst bordet das über, und man kann gar nicht soviel Büromaterial bestellen, wie rausgeschleppt wird. Sehe ich alles ein.

Aber trotzdem erscheint es mir furchtbar, wenn vergleichsweise banale Vergehen (sind 1,8 cent rechtlich ein Vergehen ? Wenn ja, liegt hier schon das erste Problem) zum Anlass genommen werden, Mitarbeiter loszuwerden.

Ich dachte immer, trotz allem was vermurkst wird, wären wir hierzulande noch vergleichsweise gut dran. Lebe ich gar in einer Parallelwelt ? Vielleicht, aber in allen Firmen mit denen ich zu tun habe wäre es
  • dem Chef peinlich, einem Mitarbeiter wegen einer handvoll Kopien, einer Briefmarke oder vergleichbaren Sachen zu kündigen, es sei denn er ist ein Wiederholungstäter oder renitenter Querulant, der danach schreit
  • den Mitarbeitern ebenso peinlich, etwas von Wert zu stehlen (nein, 1,8 cent sind KEIN Wert!) oder auf Kosten der Firma zu tun, abgesehen von den wirklich moralfreien Exemplaren, die es natürlich gibt
Dort nimmt der Chef den Mitarbeiter ggf. auf die Seite und macht eine Ansage. Wenn die nicht fruchtet, gibt es eine Abmahnung, und wenn das nicht reicht, wird man sich früher oder später trennen. So geht man dort miteinander um. Ich dachte immer ich hätte in den vielen Jahren einen repräsentativen Querschnitt von Firmen erlebt und es wäre überall so, aber mir kommen Zweifel wie weit es damit her ist, denn die Ausnahmen werden offenbar mehr.

Ich versuche mir die Firma, in der Dinge wie oben beschrieben passieren, mir das Arbeitsklima dort vorzustellen, und schaffe es nicht. Ich versuche mir vorzustellen, was für ein halbes Leben die beiden Beispiele in ihren jeweiligen Firmen verbracht haben müssen, und schaffe es genausowenig. 19 Jahre, 31 Jahre, sich die zeitspannen vorzustellen fällt gar nicht leicht. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass so etwas in einem nach meinem Empfinden "gesunden" Unternehmen aus heiterem Himmel passiert.

Ich versuche mir das Innenleben eines solchen Chefs vorzustellen, seine innere Grösse genauso wie die Grösse seiner Magengeschwüre, ich frage mich, was in seinem Kopf vorgeht, so zu reagieren. Stressbedingte Kurzschlussreaktionen kennt sicher jeder, aber auf einer Kündigung wegen 1,8 cent oder 1,30 Euro zu bestehen und sie vor Gericht durchfechten zu wollen ist keine spontane Überreaktion mehr, sondern vorsätzliches Handeln aus einer inneren Überzeugung heraus, die mich fassungs- und verständnislos zurück lässt.

Ich frage mich aber auch, was in den Köpfen solcher Mitarbeiter vorgeht. Es mag für eine Kassiererin mittleren Alters sehr schwierig sein, einen anderen Job zu finden, aber nicht unmöglich, das weiss ich. Aber ein Computerfachmann ? In einer Branche wo jeder, der seinen Namen unfallfrei buchstabieren kann, seit 20 Jahren kein wirkliches Problem hatte, irgendeinen Job zu finden ? Ist das Hinnehmen solcher Arbeitsbedingungen vergleichbar mit dem Reflex der Hinnahme einer miserablen Ehe, nach dem Motto "kann man halt nichts machen", obwohl man hier wie dort durchaus könnte und gekonnt hätte ? Die innere Einstellung dieser Menschen interessiert mich brennend, auch wenn ich vermutlich geschockt wäre sobald ich sie erführe.

Und nicht zuletzt frage ich mich schon lange, warum sich obere Instanzen unserer Gerichtsbarkeit mit so einem Mist befassen müssen. Landesarbeitsgericht, Bundesarbeitsgericht, sind in den unteren Gerichtsebenen nur völlige Versager, geistige Krüppel oder Minderbemittelte unterwegs, dass solche Fälle überhaupt durch die Instanzen gehen können ? Gibt es hierzulande keine untere Charge mehr mit genug Rückgrat, solche Bagatellen letztinstanzlich abbügeln zu können, oder dürfen sie das am Ende nicht ?

Interessant ist doch, dass das Landesarbeitsgericht sich bei einem Streitgegenstand von 1,8 cent scheinbar als hinreichend kompetent ansah, keine Revision vor dem Bundesarbeitsgericht zuzulassen, bei 1,30 Euro hingegen nicht. Das bietet einen erschreckenden Einblick in den Kompetenzrahmen und die Belastbarkeit von Urteilen der mittleren Instanzen.

Die Gerichte sind überlastet, letztinstanzliche Urteile brauchen Jahre, fragt sich irgendwer noch, wieso ? Offenbar kaum jemand, denn die achselzuckende Akzeptanz solchen Schwachsinns ist mittlerweile erschreckend hoch.

Auch ich ertappe mich dabei, solche Dinge als erquickliche Don-Quichote-gegen-die-Windmühlen-Episoden zu empfinden. Dabei sollte ich, sollten viele eigentlich aufschreien. Auch Milliarden werden Euro für Euro gespart. Und jeder "wichtige" Fall, der wegen solcher Banalitäten auch nur einen Tag später entschieden werden muss, kostet potentiell eine Menge Geld.
Ralf (Gast) - 2. Sep, 21:44

Ich glaube kaum das es um die €1,30 oder €0,18 geht. Vielmehr dürften beide auf Abfindung und nachzahlung von Lohn geklagt haben. Bei einer betriebsbedingten Kündigung stehen laut Gesetz (KSchG) 0,5 Monatsverdienste je geleistetes Arbeitsjahr an. Das sind bei 31 Jahren 15,5 Monatslöhne. Bei einem Bruttoverdienst von €2.000 sind das immerhin €15.500.
Noch besser ist der §10 KSchG: Bei regulärer Kündigung 12 Monatsverdienste, über 50 Jahre und 15 Jahre Betriebszugehörigkeit bis zu 15 Monatsverdienste, über 55 Jahre und 20 Jahre Betriebszugehörigkeit bis zu 18 Monatsverdienste.
Da sind wir also ganz schnell mal bei flockigen €24.000 - €36.000 Abfindung.

Hinzu kommen noch Lohnforderungen. Bei 20 Jahren Betriebszugehörigkeit hat man eine Kündigungsfrist von 7 Monaten, wären bei €2.000 Brutto auch mal eben €14.000. Mit Abfindung und Lohnfortzahlung ist man dann schon bei irgendwas zwischen €28.000 und €50.000. Da lohnt es sich schon zu klagen, von beiden Seiten aus.
Kommt es ganz dicke, dann werden auch noch Lohnforderungen gelten gemacht, die die Zeit bis zum Urteil gedauert hatte. Dauert so ein Prozess 3 Jahre, dann kommen da also noch mal 36 Monatslöhne oben drauf. Im Normalfall wird so was aber über eine Abfindung geregelt.

Ich denke auch nicht das es ein durchgeknallter Chef war der diese Kündigungen angeordnet hatte. Irgend jemand hat angeordnet das Personal eingespart werden soll, egal wie. Und irgend ein anderer Hansel haut die Leute dann wegen so einen Tinnef raus. Anstatt den Fehler einzugestehen und den Leuten eine dicke Abfindung zu geben, wird dann versucht den Fehler zu vertuschen. So kommt dann eins zum anderen bis das Dingen vorm Bundesarbeitsgericht landet.
Mit Sicherheit spielt es auch eine Rolle das vor allem große Konzerne fest angestellte Anwälte haben. Da sind die Kosten für einen Prozess weitaus geringer als die für eine Abfindung.

Schade ist es, dass die Presse solche Sachen aber nie erwähnt. Sie stellt es ja gerne so hin, als wenn die sich wirklich um €1,30 streiten würden. Klar, klingt ja auch viel besser als wenn die schreiben würden das die Parteien sich da um zig tausend Euro streiten.

castagir - 2. Sep, 23:33

Alles richtig, was Du sagst, danke dafür. Du beschreibst recht exakt eine Kultur. Eine, mit der ich zunehmend ein Problem bekomme und ihr nach Möglichkeit aus dem Weg gehe.

Dass es unter dem Strich um Geld geht ist doch völlig klar. Ebenso, dass keine Idioten am Werk sind, also nicht nur, auch wenn es manchmal so wirkt.

Was Firmen alles versucht haben um ihren Namen aus so einer Sache rauszuhalten, nachdem jeweils die Katze aus dem Sack und der Imageschaden angerichtet war, darin hatte ich in einem anderen Leben Einblick. Es ist nicht zwangsläufig Zufall oder Faulheit, wenn ich in dem Thema manchmal verkürze und weglasse.

In einem ähnlich banalen Fall wurde der Imageschaden vom Controlling betriebsintern beziffert, er war hoch siebenstellig - da erübrigt sich schlagartig jegliche Diskussion über Abfindungsbeträge einfacher Mitarbeiter und das KSchG.

Und da stellen sich mir elementare Fragen. Müsste man nicht erwarten können, dass Leute, die derartige Entscheidungen treffen in der Lage sind, den Bumerang zu erkennen, bevor er ihnen vor die Stirn klatscht ? denken sie, er fliegt wider Erwarten noch vorbei? Ich behaupte sie erkennen ihn, sehen ihn kommen, wissen dass er treffen wird, und tun es trotzdem. Ich würd's einfach nur gern verstehen.

Gerade was Du beschreibst, ist ein institutionalisierter Umgang miteinander, der mich (als Erzkapitalisten wohlgemerkt) verstört. Weil es dabei keinen Gewinner gibt. Weil keiner auf der ganzen Strecke (noch rechtzeitig) seinen Kopf raussteckt und sagt "yep, ich war's, ich hab das entschieden, sorry, my fault, lass uns die Luft rauslassen, bevor es aua macht", sondern alle nur Befehle befolgt haben, bis zum bitteren Ende. In einer Hierarchie, wo spätestens der Hansel zwei Etagen drüber sich zurecht darauf zurückziehen kann, von diesem Einzelfall ja nie etwas gewusst zu haben.

Und wenn wir bei Verantwortlichkeiten sind, gerade der Hansel, der solche Anlässe suchen, finden und nutzen muss, ist in meinen Augen jemand, dem ich noch viel bohrendere Fragen stellen möchte, als dem abstrakten Chef als Kopf einer Organisation, die so etwas überhaupt ermöglicht resp. toleriert, oder den am anderen Ende sitzenden Betroffenen, dessen Motive sich das so lange angetan zu haben ich vielleicht noch weniger verstehen könnte.

Es müssen viele Wirbellose unterwegs sein. Der von Dir beschriebene Hansel ist einer.
oberansicht - 5. Sep, 22:32

.... dass

die das überhaupt machen, bei einem "streitwert" in dieser schwindelnden höhe ..... tzz!

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